Kerstin fasst sich ein Herz

Kerstin aus dem Gendertreff-Forum hat uns gebeten, ihr Outing bei ihrer Mutter zu bloggen. Das wollen wir hiermit gerne tun.

Hallo Ihr lieben!

Heute Nachmittag habe ich mir ans Herz gefasst und mich endlich bei meiner Mutter geoutet. Es musste einfach sein, weil ich bei dieser Sache, die mich so bewegt und ein wirklich großer Teil meiner Seele und überhaupt von mir ist, das Gefühl hatte sie anzulügen, indem ich nichts davon erzählte. Auch wenn ich irgendetwas unternommen habe musste ich irgendeine Geschichte auftischen. Nein, ich wohne nicht mehr bei meinen Eltern. Auch wollte ich Ihr die Bilder zeigen, auf die ich teilweise riesig stolz bin und von Erlebnissen berichten.

Ich habe meine bewährte Methode angewendet. Ich habe immer zwei kleine Bilder von Kerstin in meinem Portemonnaie. Eins in blond und das andere mit roter Frisur. Die habe ich ihr hingehalten und gefragt, ob sie die kennen würde. Vorher habe ich nochmal überprüft ob mein Vater wirklich draußen arbeitet und nicht jeden Moment hereinkommen könnte. Mit meinem Bruder bin ich da einer Meinung, dass er es nicht verstehen würde. Seine größte Angst war in unserer Kindheit, dass wir schwul werden, wenn wir den Puppenwagen der Nachbarin schieben oder mit Big Jim spielten (männliche Barbie mit Jeeps, Abenteuerausrüstung, Westernklamotten und diverse Waffen).

Sie sah sich die Bilder an und relativ schnell fing sie an zu schmunzeln und fragte, ob ich das sei. Ich bejahte das. Dann fragte sie nach, ob ich auch die Blonde bin. Auf dem Bild hätte sie mich nicht erkannt, sagte sie. Dann ging ihr Mundwinkel etwas nach unten und sie sagte, dass sie es nicht verstehen würde. Was sie nicht verstünde, fragte ich. Warum ich das mache. Dafür habe ich selber auch keine wirklich gute Antwort. Da sagte ich, dass ich das brauche. Ich will keine Hormone oder Operation, es reicht mir wenn ich hin und wieder zu Kerstin werde.

Eine Frage ließ mich zusammen zucken: Ob wir uns an kleinen Mädchen vergreifen. So etwas von meiner Mutter zu hören… Da war ich einen Moment richtig sauer und sagte ihr, dass wir doch keine Perversen sind! Ich glaube das war ihr auch nur herausgerutscht. Ich merkte ihr an, dass sie doch erst mal platt war und nicht wusste, was sie sagen solle. Sie ist siebzig und hat sich noch nie mit dem Thema näher beschäftigt

Dann machten wir erst mal das wofür ich gekommen war und ihr helfen sollte – Onlinebestellungen von Medikamenten.

Danach zeigte ich ihr meine Picasa Seite. Ich erklärte ihr verschiedene Besonderheiten an den Bildern. Dann meinte sie, ich wäre echt hübsch, schade dass ich kein Mädchen geworden bin. Da merkte ich, dass sie etwas lockerer wurde. Es kamen noch Fragen wie z.B. wo ich die ganzen Klamotten her habe, wo ich die unterbringe, wie ich mit den Absätzen laufen kann, wie viel Schuhe ich habe, ob ich so bei mir herausgehe, wo ich mich umziehe und so weiter.

Dann hörte ich meinen Vater durch den Flur laufen. Ich habe schnell den Bildschirm "gesäubert". Nachdem ich ihr den Link zu meinen Bildern und zu verschiedenen Foren in ihre Lesezeichen gespeichert hatte, verabschiedete ich mich. Ich war irgendwie sehr emotional und zitterig und bin es jetzt immer noch. Das war doch etwas heftig. Dann machte ich etwas, was ich viel zu selten mache: Ich sagte ihr, dass ich sie lieb habe. Daraufhin umarmte sie mich, was irre gut tat!!!

Im Prinzip hat sie genau so reagiert, wie ich es eingeschätzt habe. Sie muss das erst mal verarbeiten, hat es aber sehr gut aufgenommen. Warum habe ich dann ein flaues Gefühl im Bauch??? Eigentlich müsste ich doch erleichtert sein!?

Liebe Grüße,
dat Kerstin

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